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Spätestens seit Auschwitz ist die Hervorbringung neuer Menschen keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern zu rechtfertigen. Es bedarf einer Anthropodizee - der Rechtfertigung der Hervorbringung neuer Menschen in Ansehung des von Menschen hervorgerufenen Übels. Die ausstehende Anthropodizee hätte es mit der urgnostischen Frage aufzunehmen: Was spricht gegen das Verschwinden aller Menschen auf dem Wege nataler Enthaltsamkeit?
Das wesentliche Ergebnis der Philosophie in Jahrtausenden besteht darin, uns Menschen aus dem Seinsollen herausgedacht zu haben und keine Rechtfertigung für die Hervorbringung neuer Menschen nennen zu können.

Auschwitz ist eine Zäsur, die selbst den Papst mangels Theodizee an Gott irre und zum heimlichen Gnostiker werden lässt. Nähme er den GULAG, Kambodscha und Ruanda hinzu: er müsste Gott als bösen Demiurgen verurteilen und von malignem Design reden. Den Gnostikern zufolge kann der gute Gott nicht der Schöpfer dieser bösen Welt sein.

“Wo war Gott in jenen Tagen?”
Aus der Ansprache von Papst Benedikt XVI. in Auschwitz vom 28. Mai 2006:
„An diesem Ort versagen die Worte, kann eigentlich nur erschüttertes Schweigen stehen – Schweigen, das ein inwendiges Schreien zu Gott ist: Warum hast Du geschwiegen? Warum konntest Du dies alles dulden? (...) Wie viele Fragen bewegen uns an diesem Ort! Immer wieder ist da die Frage: Wo war Gott in jenen Tagen? Warum hat er geschwiegen? Wie konnte er dieses Übermaß von Zerstörung, diesen Triumph des Bösen dulden? (...) im Letzten müssen wir bei dem demütigen, aber eindringlichen Schrei zu Gott bleiben: Wach auf! Vergiss Dein Geschöpf Mensch nicht!“
(Blätter für deutsche und internationale Politik, Juli 2006, S. 887f)
[7. November 2006]

„Und ich dachte: Gott! Gott, wo bist du? Wer bist du? Der Allmächtige? Nein, der Ohnmächtige, denn du kannst der Hölle nicht gebieten. Man stülpt dir die Krone des mors imperator auf. Der Gott des Krieges gleicht der Hyäne, die sich von Leichen nährt; oder ist der uralte Gott Kronos wieder erstanden, der seine eigenen Kinder verschlingt! Seine Altäre sind auf Katakomben von Schädeln erbaut. Ein Gottesdienst, bei dem der Orgel anstatt der Choräle wilde Todesschreie entdonnern.“
(Hedwig Dohm: Der Missbrauch des Todes. Senile Impressionen, Berlin-Wilmersdorf: Verlag Die Aktion, 1917, S. 3)
[Hinzugefügt am 14.2.2011]



Lange bevor der Papst und Hedwig Dohm diese Worte sprach, waren sie bereits von Georg Christoph Lichtenberg zu Ende gedacht worden:
Schon vor vielen Jahren habe ich gedacht, daß unsere Welt das Werk eines untergeordneten Wesens sein könne, und noch kann ich von dem Gedanken nicht zurückkommen. Es ist eine Torheit zu glauben, es wäre keine Welt möglich, worin keine Krankheit, kein Schmerz und kein Tod wäre. Denkt man sich ja doch den Himmel so. Von Prüfungszeit, von allmähliger Ausbildung zu reden, heißt sehr menschlich von Gott denken und ist bloßes Geschwätz. Warum sollte es nicht Stufen von Geistern bis zu Gott hinauf geben, und unsere Welt das Werk von einem sein können, der die Sache noch nicht recht verstand, ein Versuch? ich meine unser Sonnensystem, oder unser ganzer Nebelstern, der mit der Milchstraße aufhört. Vielleicht sind die Nebelsterne, die Herschel gesehen hat, nichts als eingelieferte Probestücke, oder solche, an denen noch gearbeitet wird. Wenn ich Krieg, Hunger, Armut und Pestilenz betrachte, so kann ich unmöglich glauben, daß alles das Werk eines höchst weisen Wesens sei; oder es muß einen von ihm unabhängigen Stoff gefunden haben, von welchem es einigermaßen beschränkt wurde; so daß dieses nur respektive die beste Welt wäre, wie auch schon häufig gelehrt worden ist.
(Schriften und Briefe. Herausgegeben von Wolfgang Promies, Bd. 1-3, München: Hanser, 1967 ff, Bd. 2, S. 410)
[Hinzugefügt am 15. Mai 2010. Modizifiert am 14.2.2011]

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